Judengesänge: Die Erlauer Spiele
Man kann die Charakterisierung der Juden beispielhaft vorführen anhand einer Gruppe von Spielen, die unter dem Namen „Erlauer Spiele“ bekannt sind.[9] Sie sind überliefert in einer Handschrift (» H-EG Cod. B. V. 6) des frühen 15. Jahrhunderts, die seit 1783 in der Erzbischöflichen Bibliothek in Eger (dt. Erlau; Nordungarn) aufbewahrt wird, aber vermutlich aus Kärnten stammt.[10] Auch in den sechs Spielen dieser Handschrift[11] treten die Juden so auf, wie im Kap. Juden als Akteure in Spielen beschrieben, aber die Handschrift überliefert für viele der Gesänge auch Noten, so dass zwischen den Gesängen „der Juden“ und der sonstigen handelnden Personen unterschieden werden kann. Leider trifft das erst ab dem dritten Spiel, dem Osterspiel, zu, so dass wir zu Anfang des ersten Spiels, des Weihnachtsspiels, nicht wissen können, wie der grundsätzliche Zweifel der Juden an der Jungfrauengeburt (gleich doppelt: vom Chormeister und vom Chor der Juden) gesungen wird. [12] Aber der im Wächterspiel folgende Unsinnsgesang der Juden, Schiroli kakma nedana (vgl. Kap. Das Wächterspiel), drückt schon aus, dass der (nicht nur jüdische, das ist das Pikante an dieser Szene!) Zweifel aus christlicher Sicht unsinnig ist. Und der kurz darauf folgende ironisch-derbe, das heißt selbstdenunziatorische Wechselgesang des Meisters und des Judenchores (Vers 26–44) beweist die angeblich nur „jüdische“ Skepsis gegenüber dem Heilsgeschehen als absurd.
Im Osterspiel wird häufig in variationsreichen Liedern gesungen, aber vor allem über die Juden, im schon genannten traditionellen Kontext des Gottesmordvorwurfs. Ein Beispiel:[13]
„Owe jamer, owe laid!
Owe du falsche Jüdischait,
geschriern sei über dich waffen!
Das enkch got hat dar zu beschaffen,
das es unser liecht und unser suenn,
Jhesum, unsers herzen wuenn,
so moerdichleichen habt erslagen,
das müeß wier heut und immer chlagen.“
(Vers 961–968)
(O weh, o weh Leid! O weh du falsche Judenheit, über dich sei wehe geschrieen! Dass Gott euch dazu geschaffen hat, dass ihr unser Licht und unsre Sonne, Jesus, unsres Herzens Wonne, mörderisch erschlagen habt, das müssen wir heute und immer beklagen.)
[9] Ausgaben: Kummer 1882; Suppan/Janota 1990.
[11] Es sind: Weihnachtsspiel, Dreikönigsspiel, Osterspiel, Magdalenenspiel, Wächterspiel, Marienklage.
[12] Zur Rolle der Juden in Texten des Weihnachtsstoffkreises vgl. Frey 1996.
[13] Weitere Beispiele: Vers 984–988, 1028 f., 1073–1076.
[1] Zur Problematik (und Notwendigkeit) dieser Unterscheidung vgl. Linke 2001.
[3] Beispielhaft ist das vorgeführt anhand des Redentiner Osterspiels in Freytag/Claußnitzer/Warda 2002, auch wenn hier auf die Rolle des Gesangs nicht besonders eingegangen wird.
[4] Vgl. Frey 2010. Edition des Frankfurter Passionsspiels in Janota 1996.
[5] Zur Problematik dieser Auffassung im Hinblick auf den Status der Juden in der Stadt vgl. Frey 1997.
[6] Die biblische Zentralstelle steht bei Paulus 1 Thess 2, 14–16. Vgl. Schreckenberg 1994; Schreckenberg 1997; Schreckenberg 1999; Heil 1998 und Heil 2006.
[8] Im Innsbrucker Osterspiel (siehe Meier 1962) heißt es „ululant“ (nach Vers 302), bezeichnenderweise nur von den „dæmones“ (Dämonen).
[9] Ausgaben: Kummer 1882; Suppan/Janota 1990.
[11] Es sind: Weihnachtsspiel, Dreikönigsspiel, Osterspiel, Magdalenenspiel, Wächterspiel, Marienklage.
[13] Weitere Beispiele: Vers 984–988, 1028 f., 1073–1076.
[15] Für das Spiel selbst siehe Wyss 1967, für einen Überblick Wyss 1985, zu den darin enthaltenen Judengesängen Evans 1943.
[16] Evans 1943, 73.
[17] Evans 1943, 70.
[18] Evans 1943, 6 f.
[19] Evans 1943, 74.
Empfohlene Zitierweise:
Winfried Frey: „Cayphas cantat cum synagoga: Singende Juden in geistlichen Spielen“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/cayphas-cantat-cum-synagoga-singende-juden-geistlichen-spielen> (2016).