Schlaglicht: Christ ist erstanden
In der Kirchenprovinz Salzburg wurde am Ostermorgen nach der Visitatio sepulchri (» A. SL Visitatio sepulchri; » A. Osterfeier), wenn der Klerus in den Chor zurückkehrte, das Christ ist erstanden von den Gläubigen (populus) als Antwort auf die Antiphon Surrexit enim sicut dixit Dominus gesungen bzw. gerufen. Das älteste Zeugnis dieser Praxis ist nach Robert Klugseder ein Liber ordinarius von St. Nikola, Passau (A-Wn cod. 1482, auch Liber ordinarius des Mengotus genannt) aus der Zeit um 1150. Schon im 13. Jahrhundert war das Lied weit verbreitet.[1] Seine rituelle Verwendung in verschiedenen Kirchen und Klöstern war etwas unterschiedlich; so hatte es etwa seinen Platz vor oder nach dem die Visitatio beschließenden Te Deum des Chors.
Die vom Chor gesungene Antiphon Surrexit enim sicut dixit ist ein Zitat der biblischen Verkündigung des Engels an die Jünger und die drei Marien („Er ist nicht hier, sondern ist auferstanden, wie er gesagt hat“). Wenn nun der Chor der symbolisch vom leeren Grab Zurückkehrenden diese Antiphon anstimmte, wurde dem wartenden Kirchenvolk seinerseits die frohe Botschaft mitgeteilt, worauf es dann in der eigenen Sprache reagierte. Nicht ein einstudiertes lateinisches Lied sollte gesungen werden, sondern eine eigene Äußerung war erlaubt; Spontaneität war in der Sprachlizenz inbegriffen. Christ ist erstanden ist freilich ein komponiertes Lied, das musikalisch auf Motiven der Ostersequenz Victimae paschali laudes beruht. Manchmal wurde es offenbar Strophe für Strophe abwechselnd mit der Sequenz von Klerus und Gemeinde vorgetragen.[2] Aber die Gepflogenheit, dem Lied am Ende den Bittruf Kyrieleis („Herr, erbarme dich“) anzufügen, bezeugt, dass das Singen des Liedes als spontaner Anruf des auferstandenen Herrn, also als eine Bitte oder Akklamation, verstanden wurde.[3] (» B. Geistliches Lied, Kap. Akklamation)
So haben derartige Gesänge, die vom Kirchenvolk beigetragen werden konnten, den Sammelnamen „Leise“ (von Kyrieleison) erhalten, der ferner daran erinnert, dass diese Liedgattung an ihrem Abschluss oder Refrain erkennbar ist. Nicht selten enden Leisen auch mit anderen Ruf-Formeln, vor allem „Alleluia“.
Im 15. Jahrhundert wurden mehrstimmige Vertonungen der Leise Christ ist erstanden beliebt. Hiermit betrat die Praxis dieses Liedes einen neuen sozialen Raum: den der Chorschulen, der Kantoreien und der höfischen Musik. Das Kirchenvolk konnte bei mensuralen Vertonungen natürlich nicht mitsingen. Nicht zufällig zeigen die betreffenden Quellen manchmal die lateinische Paraphrase Christus surrexit, mala nostra texit – wobei sogar unsicher bleibt, ob die Liedmelodie lateinisch oder deutsch vorzutragen war. Das vierstimmige Cristus surrexit im Trienter Codex I-TRbc 88, fol. 248v (» Hörbsp. ♫ Christus surrexit) könnte theoretisch von einem Ausländer komponiert worden sein, während das dreistimmige Christ ist erstanden im Trienter Codex » I-TRbc 90, fol. 227v, einheimischer Herkunft sein könnte (» Hörbsp. ♫ Christ ist erstanden). Jedoch sollte normalerweise aus der Sprache nicht auf die Herkunft des Komponisten geschlossen werden. In der utraquistischen Kirche Böhmens war die lateinische Form ebenfalls verbreitet, vgl. » Abb. Christus surrexit, Franus.
Eine der zahlreichen Vertonungen des deutschen Textes stammt von Johannes Brassart (» D. Albrecht II. und Friedrich III.), dem Lütticher Kapellmeister Friedrichs III. (um 1440).[4] In dem fragmentarisch erhaltenen Musikbuch eines vermutlich Salzburger Kantors, das um 1440–1460 datierbar scheint, steht eine andere dreistimmige Fassung dieses Liedes, mit der Melodie ungewöhnlicherweise im Tenor (Unterstimme). (» Abb. Christ ist erstanden)
Die Unterstimme (die aber manchmal in der Mitte liegt) singt die Melodie des Liedes in verzierter Fassung.
Solche Cantus-firmus-Paraphrasen im Tenor waren selten; sie wurden besonders in England kultiviert, z. B. in Werken von John Dunstaple und John Benet. In der Salzburger Handschrift steht am Ende der rubrizierten Überschrift das Wort “pijamoij”, das die Herausgeber der Edition Das Deutsche Kirchenlied nicht zu erklären vermochten.[5] Vielleicht ist es der Name des englischen Komponisten John Pyamour, der unter König Heinrich V. Master of the Children der Chapel Royal war (1416–1420). Von ihm ist ein einziges Werk bekannt, eine schöne Vertonung der Antiphon Quam pulcra es. Sie wurde um 1440 im Trienter Codex » I-TRbc 92 von Johannes Lupi aufgezeichnet, der damals bei König Friedrich III. in Graz gedient haben dürfte.[6] Die Leise Christ ist erstanden ist bei aller Überregionalität unseres Wissens nicht bis England gelangt. Wenn der Komponist der Salzburger Vertonung tatsächlich der Engländer John Pyamour war, könnte sich dieser Musiker, wie der Lütticher Johannes Brassart, dann einmal in den habsburgischen Ländern aufgehalten haben?
[1] Vgl. die Quellen bei Lipphardt 1960 und Klugseder 2012.
[2] Vgl. Janota 1968, 179.
[3] Auch Janota 1968, 245, Anm. 1, erklärt die ältesten „Gemeindeakklamationen“ als Bittrufe.
[4] D-Mbs Clm 14274, fol. 145r. Edition: Mixter, Keith (Hg.): Johannes Brassart. Opera omnia. 2. Motetti, [Neuhausen] 1971 (Corpus mensurabilis musicae 35), Nr. 1.
[5] Vgl. Lütolf 2003–2010, Bd. 1, 97f., Nr. 77 (Edition) und Bd. 6, 50f. (Kommentar).
Empfohlene Zitierweise:
Reinhard Strohm: “Christ ist erstanden”, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/kapitel/schlaglicht-christ-ist-erstanden> (2016).