Mensuraltheorie – Didaktische Aufbereitung
Mensuraltheorie ist die Lehre von den Zahlenverhältnissen rhythmisch fixierter Noten, wie sie in der mehrstimmigen Musik (aber nicht nur dort, » A. Klösterliche Mehrstimmigkeit) verwendet wurden. Für die Situation in Zentraleuropa und speziell in der Region Österreich ist im Bereich der Mensuraltheorie der Einfluss aus Böhmen wichtig. Die italienischen Traktate im Gefolge der Johannes de Muris-Rezeption wurden fast nicht wahrgenommen, jedenfalls nicht in eine Theoriediskussion integriert, während die französische Tradition (Franco von Köln) weitgehend übernommen, aber an die lokalen Praktiken angepasst wurde.
Im Jahr 1369 entstanden in Prag, wahrscheinlich an der Universität bzw. einem Kolleg, die Merkverse „Iam post has normas mensurati volo cantus“ („Ich will, dass nach den folgenden Regeln des mensurierten Gesanges [verfahren wird]“). Sie bieten in insgesamt 162 Hexametern – der im Mittelalter beliebtesten Form didaktischer Fachtexte – konkrete Angaben zur mehrstimmigen Musik und ihrer Notation. In der Region Österreich setzte die Überlieferung der Prager Merkverse (nach derzeitiger Quellenlage) mit einiger Verzögerung ein, nämlich in der ersten Hälfte bzw. Mitte des 15. Jahrhunderts (» A-KR CC 312; A-MB Man. cart. 95; » A-M Cod. 950). Die Herkunft des Kremsmünsterer Codex A-KR CC 312 von ca. 1400 ist noch nicht eindeutig geklärt[6], die übrigen sind sicher im österreichischen Raum entstanden.[7]
In der Melker Abschrift (A-M Cod. 950) geht den Hexametern eine Einleitung voraus, in der der Aufbau des Textes deutlich gemacht wird. Acht Abschnitte werden unterschieden: 1. Notenwerte, 2. Tempus und prolatio, 3. Imperfektion, 4. Modi, 5. Halbtöne, 6. Ligaturen, 7. Pausen, 8. Mensurzeichen. Wie der Glossator (Autor des mitlaufenden Kommentars) zu Recht anmerkt, zählt die Passage über die Halbtöne nicht zum eigentlichen Bereich der Mensuraltheorie (obwohl Akzidentien in der Mehrstimmigkeit relevanter sind als im Choral).
Obwohl die französische Ars nova (» C. Ars antiqua und Ars nova) als theoretisches Modell vorherrschte, war zumindest den Experten auch deren grundsätzliche Differenz zum italienischen System bewusst, wie die hier vorzufindende Gegenüberstellung von „Francigene“ (Franzosen) und „Lambardi“ (Lombarden) zeigt. Franzosen und Italiener sind sich in der Handhabung bzw. Interpretation der Ligaturenschreibung uneinig, andere Völker („alie terre“) – womit wahrscheinlich in erster Linie englische Theoretiker und Quellen gemeint sind – kennen wieder andere Regeln.[8]
Ein weiterer Aspekt didaktischer Aufbereitung musiktheoretischer Inhalte bestand in der Strategie, mit Termini und Konzepten zu arbeiten, die dem Schüler aus anderen Zusammenhängen vertraut waren. Ein Beispiel dafür ist die u. a. im erwähnten Melker Codex A-M Cod. 950 verwendete Definition des tempus (allgemein: Zeit, in der Mensuraltheorie: Verhältnis zwischen Brevis und Semibrevis), die häufig durch Aristoteles’ Bestimmung „Tempus est mensura motus secundum prius et posterius“ („Die Zeit ist das Maß der Bewegung gemäß dem Vorher und Nachher“) eingeführt wird.[9]
[6] Vgl. Flotzinger 2002 (mit Übertragung der drei zweistimmigen Motetten).
[7] Zu den Versionen in Michaelbeuern und Melk siehe auch Welker 2005, 75f.
[8] Aktuelle Edition: Rausch 2001a, 287 (Verse 77ff).
[9] So z. B. im „Melker Anonymus“, ed. in Gallo 1971, 15. Ähnlich auch im Breslauer Mensuraltraktat (ed. in Wolf [1918–19]).
[2] Vgl. Rausch 2001b, 77–95 (mit Edition aus A-M Cod. 1099).
[3] Vgl. Rausch 2008. [bib]914[/bib]
[5] Vgl. Angerer 1979.
[6] Vgl. Flotzinger 2002 (mit Übertragung der drei zweistimmigen Motetten).
[7] Zu den Versionen in Michaelbeuern und Melk siehe auch Welker 2005, 75f.
[8] Aktuelle Edition: Rausch 2001a, 287 (Verse 77ff).
[9] So z. B. im „Melker Anonymus“, ed. in Gallo 1971, 15. Ähnlich auch im Breslauer Mensuraltraktat (ed. in Wolf [1918–19]).
[10] Edition: Ristory 1987, 65–75.
[11] Vgl. Schmid 1998.
[12] Vgl. Schmid 1998.
[13] Siehe Welker 2005.
[15] Für den Terminus „cantus acquisitus“ kennt das Lexicon musicum Latinum medii aevi, hrsg. von Michael Bernhard, München 2006, Bd. 1 (A–D), 381, nur diesen einen Beleg.
[17] Vgl. Strohm 1993, 122–124.
[18] Vgl. Witkowska-Zaremba 1998.
[19] Mit dem Terminus „viroletum“ konnte der Kopist nichts anfangen, an der Stelle befindet sich eine Lücke.
[20] Edition: Ristory1987
[21] Vgl. Bent 2007, 68–70, und Strohm 1993, 108–111.
[22] Vgl. Rumbold/Wright 2009, 167–172.
[23] Vgl. Meyer 2001. Auszüge aus der Handschrift A-Iu Cod. 962 wurden von Christian Meyer in seinem Aufsatz transkribiert. Das altfranzösische Proportionskapitel bei Federhofer-Königs 1969. Vgl. Strohm 1993, 292.
[24] Datenbank Repertorium Academicum Germanicum der Universitäten Bern und Gießen, URL: http://www.rag-online.org/index.php/de/datenbank/abfrage.html [02.09.2013].
[25] Heute in der Warschauer Nationalbibliothek: PL-Wn Cod. BOZ 61. Edition: Witkowska-Zaremba 2001.
[26] Vgl. Rauter 1989, Kap. VI, 86. Im Art. „Gurk“ von Walburga Litschauer, in: Oesterreichisches Musiklexikon, Bd. 2, Wien 2003, 645 (URL: http://www.musiklexikon.ac.at [14.04.2014]) wird der Traktat nicht genannt. Der Text wird aber schon von Gruber 1995, 171 (Anm. 2 auf 209) erwähnt.
[27] Vgl. Rumbold/Wright 2009, 122.
[28] Vgl. Rauter 1989, Kap. II, 49–62; vgl. die Übersicht, 43.
[30] Rauter 1989, 49 f. und 53.
[31] Dazu Schmid 1995.
Empfohlene Zitierweise:
Alexander Rausch: “Spekulative Musiktheorie und Chorallehre”, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/spekulative-musiktheorie-und-chorallehre> (2016).