You are here

Theoretica und Musizierbücher

Birgit Lodes

Eine besondere Karriere machte ein zweistimmiger Abschnitt aus Obrechts Missa Salve diva parens, das „Qui cum Patre“ aus dem Credo (» Hörbsp. ♫ Qui cum Patre). Dieser strenge Kanon im Einklang hat offenbar die Zeitgenossen so fasziniert,[17] dass er als Einzelsatz in mindestens sieben Quellen aus dem 16. Jahrhundert überliefert ist: teils in Theoretikertraktaten wie » Heinrich Glareans Dodecachordon (Basel 1547), teils in didaktisch ausgerichteten Lehrschriften wie » Sebald Heydens De arte canendi (Nürnberg 1540), teils in Musizierbüchern, in denen zweistimmige Abschnitte aus umfangreicheren Kompositionen unterschiedlicher Gattungen für die (häusliche) Spielpraxis zusammengestellt wurden („Biciniensammlungen“).[18] Eine solche Biciniensammlung ist die Handschrift » A-Wn Mus.Hs. 18832/1–2 der Österreichischen Nationalbibliothek (» Abb. Qui cum Patre). Derartige Musizierbücher begegnen im späteren 16. Jahrhundert insbesondere im Kontext der protestantischen Musiklehre.

 

Abb. Qui cum Patre

Abb. Qui cum Patre

Das „Qui cum Patre“ aus dem Credo von Obrechts Missa Salve diva parens im Stimmbuch für die Oberstimme der Biciniensammlung » A-Wn Mus.Hs. 18832/1–2, fol. 14v–15r. Das Stück beginnt auf der linken Seite in der dritten Notenzeile; davor steht mit Bleistift die moderne Nummerierung „13“.

(Mit Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek.)

 

Der hier abgebildete Stimmbuchsatz stammt wie das Prachtchorbuch » A-Wn Mus.Hs. 15495 (» D. Musikalische Huldigungsgeschenke, Kap. Ein Geschenk für den frischgebackenen Kaiser: Das Alamire-Chorbuch A-Wn Mus.Hs. 15495 ) aus dem Alamire-Skriptorium. Er wurde Anfang der 1520er Jahre von Petrus Alamire persönlich für Raimund Fugger d. Ä. geschrieben (» E. Musik für die Fugger). Die Tatsache, dass in der Handschrift weder Komponisten genannt, noch – mit wenigen Ausnahmen – Texte oder Incipits beigegeben sind, unterstützt die Vermutung, dass Raimund die Bücher wahrscheinlich für das instrumentale Musizieren seiner Kinder in Auftrag gegeben hatte.[19]

[17] Da dieser zweistimmige Abschnitt in drei wichtigen Quellen fehlt, schlägt Barton Hudson vor, dass er möglicherweise später (vielleicht gar nicht von Obrecht) zur Messe dazukomponiert worden sein könnte (Hudson 1990XXf.).

[18] Entsprechende Sammlungen existieren auch für drei Stimmen („Tricinia“). In Formschneiders Triciniendruck (Nürnberg 1538) steht in einer bunten Mischung von 100 Stücken aus unterschiedlichen Gattungen auch das dreistimmige „Pleni sunt“ aus Obrechts Missa Salve diva parens.

[19] Jas 1999, 165; vgl. auch Verhaar 2014.