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Himmlische und irdische Musik

Wolfgang Fuhrmann
  • Unhörbares und Unerhörtes

    Die beiden wichtigsten, grundlegenden Formen von Musik im Mittelalter waren für die Normalsterblichen unhörbar. Sie verwiesen auf ein Jenseits des sinnlich Zugänglichen, und zugleich legitimierten sie die musikalische Praxis auf Erden, wenigstens teilweise. Die Welt-Musik (musica mundana) entstammte antik-griechischen Überlegungen zur zahlenmäßigen Struktur des Kosmos.[1] Vernehmbar aber war diese Harmonie der Sphären und Planeten nur Wundermännern wie Pythagoras.[2] Die andere Form unhörbarer Musik war jüdisch-christlicher Provenienz: jene der Engel. Hier aber war die Sphäre zwischen irdischem und himmlischem Gesang durchlässiger und übergängig. Unentwegt zelebrierten die neun Chöre der Engel im Himmel das ewige Gotteslob (laus perennis). Auserwählten Sterblichen wie dem Propheten Jesaja oder den Hirten auf dem Felde wurde es zuteil, den Gesang der Engel zu hören.[3] Dazu kamen im Zug mittelalterlicher Legendenbildung immer mehr Kirchenmänner und fromme Laien wie Ignatius von Antiochien oder Bernhard von Clairvaux.[4]
  • Phantastischer Realismus

    Im Spätmittelalter wird die Grenze zwischen Jenseits und Diesseits auch im Bild immer stärker durchlässig und bleibt doch aufrecht. Singende oder Instrumente spielende Engel treten bei der Geburt Christi oder noch öfter gemeinsam mit der gekrönten „Himmelskönigin“ Maria auf, einzeln, in Gruppen oder ganzen Scharen. Sie scheinen den Betrachtern teilweise reale Musikinstrumente und Musiziersituationen vor Augen zu führen, so verführerisch „fotorealistisch“ und detailgetreu wirken die Oberflächen- und Lichteffekte der Kunst des 14. und namentlich des 15. Jahrhunderts (vgl. etwa die aus Mensuralnoten singenden Engel, » Abb. Pacheraltar St. Wolfgang).

     

    Abb. Pacheraltar St. Wolfgang

    Abb. Pacheraltar St. Wolfgang

    Engel, die aus Mensuralnoten singen (eine von zwei Gruppen). Flügelaltar von Michael Pacher (1471–1479), Pfarrkirche St. Wolfgang, Salzkammergut. Foto: © imareal. 

     

    Und doch ist es verfehlt, nach dem „Realismus“ des Dargestellten zu fragen. Engel sind, wie man wissen könnte, nicht der irdischen Realität unterworfen. Manche Bilder mögen Instrumentenkombinationen, also Ensembles darstellen, wie sie auch zeitgenössisch möglich gewesen wären. So zeigt ein aus Norddeutschland stammendes Altarbild der Madonna mit Kind und musizierenden Engeln die Zusammenstellung einer „basse musique“ von Laute, Harfe, Portativ und Fidel, vermutlich mit Gesang.[5] Andere überschreiten bewusst – und mit bewusster Symbolik – jedes irdische Maß, wie etwa das ins Endlose verschwebende Riesenensemble der Marienkrönung in der Wiener Kirche Maria am Gestade (» Abb. Maria am Gestade).[6] Manche scheinen an ausgelassenen Spielmannsensembles ihr Vorbild zu nehmen, andere verweisen auf die feierlichen Gebärden des kirchlichen Rituals.

  • Legitimation des Irdischen?

    Alle in der bildenden Kunst dargestellten Engelsmusiken bleiben unhörbar, so sehr sie den Betrachter an real erklingende Musik erinnern mochten, so sehr die Klänge ihres Musizierens auch über die unsichtbare Wand der Bildoberfläche hinauszudrängen scheinen. Tatsächlich ergibt eher die Umkehrung Sinn: Weniger lässt sich von den Bildern auf die real erklingende Musik rückschließen, sondern umgekehrt lassen jene dieser die Aura des Übersinnlich-Jenseitigen zuteilwerden. Dadurch wurde theologisch Fragwürdiges wie der Gebrauch von Instrumenten zum Gotteslob[7] legitimiert, die umstrittene Polyphonie nobilitiert und ihr jubilierend-freudiger Klang zur Engelsmusik erhoben.[8] So „erklingt“ in der Wiener Marienkönig (» Abb. Maria am Gestade) und schon in ihrem Vorbild – dem Genter Altar der Brüder van Eyck – an der Orgel ein Dreiklang als Symbol des unaufhörlichen Lobgesangs;[9] im „Jüngsten Gericht“ im Tiroler Ferdinandeum singen, während die Posaunen erschallen, drei Engel ein mensuriertes Gloria (» Abb. Das jüngste Gericht), und auf zwei Bildern eines Meisters aus Brügge und einem Deckengemälde im Château Montreuil-Bellay ist sogar eine veritable musikalische Komposition – Walter Fryes geistliches Chanson Ave regina celorum, mater regis angelorum – zu erkennen.[10]

  • Das Unzulängliche

    Dennoch bleibt die irdische Musik unzulänglich, wie auch die Bilder der musizierenden Engel unzulänglich bleiben mussten. Beides bleibt bloße Andeutung „durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort“ (1 Korinther 13,12) gegenüber einer himmlischen Wirklichkeit, die an den geistlichen, nicht an den physischen Sinnen ihr Maß nahm.[11] Vielleicht ist das sogar die tiefste „ikonologische“ Bedeutung der Engelsmusiken: durch die Aufbietung von allem, was die Welt an musikalischen Möglichkeiten zu bieten hatte, dessen Unzulänglichkeit den Betrachtern vor Augen zu führen. Sogar der Musikgelehrte und Komponist Iohannes Tinctoris, dem man eine Geringschätzung der polyphonen Kunstmusik seiner Zeit wahrhaftig nicht zum Vorwurf machen kann, meinte: „Aber in jenem himmlischen Vaterland wird die musikalische Praxis nicht allein verglichen mit jenen, die hier auf Erden zu den musikalisch Ungebildeten zählen, sondern selbst im Vergleich zu den musikalischen Fachleuten weitaus schöner, eleganter und feinsinniger sein, als in diesem irdischen Leben.“[12]

[1] Vgl. beispielsweise die – anhand eines zentralen Texts – übergreifende Untersuchung von Heilmann 2007.

[3] Die wichtigsten biblischen Stellen: Jesaia 6,1–4; Ezechiel, 3,12 f.; Lukas 2,13 f.; Apokalypse, 4,8 sowie 14,2 f. und 19,1, 4,6.

[4] Nach wie vor grundlegend: Hammerstein 1962. Vgl. auch » C. Engelsmusik sowie Tammen 2014 und die dort in den Fußnote 7 und 229 genannten weiteren Arbeiten.

[5] Madonna mit Kind und musizierenden Engeln, Szépművészeti Múzeum, Budapest. Ähnlich auch Stefan Lochners Madonna im Rosenhag (um 1450).

[6] Vgl. dazu Tammen 2014, 232–235; » C. Engelsmusik.

[7] Dazu Fallows 1983; Fallows 1985, v. a. 33; Nedden 1932/33, 31. Diese Belege zeigen vor allem den Gebrauch von „haute musique“, während die Engelskonzerte mit „basse musique“ vielleicht die Intimität einer häuslichen Aufführung suggerieren sollen.

[8] So der Theologe Gilles Carlier und andere, vgl. Fuhrmann 2014, 121–130.

[9] Fuhrmann 2014, 111–115.

[10] Fuhrmann 2014, 116–121 (dort auch weitere Literaturangaben).

[12] “Vsus tamen musice in ipsa celesti patria non modo ab his qui hic in ea minime sunt eruditi, uerum eciam ab edoctis erit multo dulcior, multo elegantior, multoque subtilior, quam hac in terrestri uita.” (Woodley 1985, 262).


Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Fuhrmann: “Himmlische und irdische Musik”, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/himmlische-und-irdische-musik> (2016).