Sie sind hier

Cantus fractus in verschiedenen liturgischen Gattungen

Marco Gozzi

Sehr bald ging der Stil des von einer zweiten Stimme begleiteten cantus fractus vom Credo auf das Gloria über. Ein bekanntes, weit verbreitetes Beispiel ist ein Gloria mit dem Tropus Spiritus et alme. [6] Im St.-Emmeram-Codex (» D-Mbs Clm 14274) finden sich auch zwei einstimmige Kyrie in Mensuralnotation (fol. 21r und fol. 22r), die die Verbreitung des cantus-fractus-Stils auf alle Ordinariumsgesänge belegen. Während das erste dieser beiden Kyrie die reguläre, international verbreitete Mensuralnotation zeigt (z. B. mit  rhythmisch festgelegten Ligaturen und den gewöhnlichen Mensurzeichen), besitzt das zweite Kyrie (» Abb. Kyrie St.-Emmeram-Codex; » Notenbsp. Kyrie St.-Emmeram-Codex) nur zwei verschiedene Notenwerte.

 

 

 

Der längere Wert (in der Transkription als halbe Note wiedergegeben), ist im Original als doppelter Punkt auf derselben Tonhöhe (bistropha, bipunctus) dargestellt. Es handelt sich um eines der vielen Mittel, mit denen die Notation des einstimmigen Chorals zur Darstellung messbarer Notenwerte umfunktioniert wurde. Im cantus fractus gibt es viele Notationstypen zur Nachahmung von Mensuralmusik. [7]

Außer auf das Credo und andere Ordinariumsgattungen wurde der cantus fractus auf liturgische Sequenzen und Hymnen angewandt. Möglicherweise war die mensurale Ausführung solcher Gesänge mit metrischem Text sogar die Norm, selbst wenn die Notation nichts über den Rhythmus aussagt.

[6] Verzeichnet bei Bosse 1955, Nr. 39. Liste der Überlieferungen mit Faksimile und Transkription in Sette 2012. Zu den Konkordanzen Neustift/Novacella, Biblioteca dell’Abbazia (I-NV Cod. 139, fol. 79v), vgl. die Wiedergabe bei Engels 2001, 309.

[7] Vgl. Gozzi, Marco: Prefazione, in: Gozzi 2012, 23–40.