Sie sind hier

Das Silete der Pfarrkircher Passion

Marco Gozzi

Das Silete der Pfarrkircher Passion von 1486 (» I-VIP Hs. XVI, fol. 63r; » Abb. Silete Sterzing), das den traditionellen lateinischen Ruf um einige deutschsprachige Verse erweitert, kommt in mehreren Spieltexten vor und konnte auch rein instrumental, als eine Art Fanfare, aufgeführt werden. Seine theatrale Funktion war, wie erwähnt, die Aufmerksamkeit des Publikums während der Szenenwechsel und am Anfang des Dramas zu bewirken.[13]

Die notierte Musik benötigt trotz ihrer klaren formalen, rhythmischen und melodischen Struktur einige editorische Emendationen, wenn sie in einer modernen Aufführung sinnvoll sein soll. In der vorliegenden Transkription sind offensichtliche Fehler und Widersprüche der Handschrift korrigiert. Die zahlreichen roten Punkte zwischen den Noten sind nur als Verzierung gedacht und haben keine mensurale Bedeutung. Die Notation des Rhythmus, die nur Semibreven und Minimen verwendet, ist sehr präzise, abgesehen davon, dass sie keine Pausen angibt: Diese wurden wahrscheinlich für unnötig erachtet, weil sie immer mit den Vers- und Zeilenenden zusammenfallen. Die Notierung der Melodie dagegen muss durch Vergleich von Parallelstellen emendiert werden, da der Kopist die Tonhöhen recht ungenau wiedergibt. Einige Noten stehen in unklarer Position zwischen Notenlinie und Zwischenraum. Ein solchermaßen geschriebener Notentext hat offensichtlich mehr die Funktion einer Gedächtnishilfe; der Verfertiger der Handschrift kannte den Gesang sehr gut auswendig. Trotzdem stellt die Notation genau die verschiedenen kleinen Varianten der Versdeklamation dar, die sich dadurch ergeben, dass der letzte Vers hypermetrisch ist (mit zusätzlicher Silbe), der vorletzte dagegen hypometrisch (mit einer Silbe weniger): Phänomene, die ohne Schwierigkeit in der Aufführung eines metrischen Textes bewältigt werden konnten. Der poetische Text besteht aus dem lateinischen Refrain von zwei Sechssilbern und aus zwei deutschen Dreizeilern in (jambischen) Vierhebern. Von diesen haben die ersten beiden Verse je acht Silben und enden männlich, der dritte dagegen sieben und endet weiblich; das Reimschema ist xx aab ccb. Die melodische Struktur folgt der textlichen sehr genau und besteht aus acht Zeilen nach dem Schema xy aby aby. Es handelt sich somit um eine Form, die der italienischen Ballata bzw. dem französischen (und deutschen) Virelai verwandt ist. Die Melodie bewegt sich in einem eindeutigen ersten Modus (authentischer Protus) mit zu ergänzendem b. Außer den ersten Zeilen der Terzette, die auf a enden, schließen alle Zeilen auf d. Offenbar verlangt die Komposition eine zweite, extemporierte Stimme. Die Rubrik “In primo canunt duo angeli” am oberen Seitenrand von fol. 63r bezieht sich auf zwei Sänger, die das Stück in einfacher Mehrstimmigkeit ausführen.

 

Abb. Silete Sterzing / Fig. Silete Sterzing/Vipiteno

Abb. Silete Sterzing

Das Silete der Pfarrkircher Passion von 1486 (» I-VIP Hs. XVI, fol. 63r). Mit der Rubrik “In primo canunt duo angelus” [sic, statt “angeli”] (Zu Anfang singen zwei Engel). Transkription Marco Gozzi. Faksimile mit Genehmigung des Archivs der Gemeinde Sterzing. / The Silete of the ‚Pfarrkircher Passion‘ of 1486 (» I-VIP Hs. XVI, fol. 63r). With rubric ‚In primo canunt duo angelus‘ [sic, for ‚angeli‘] (In the beginning two angels sing). Transcription by Marco Gozzi. Facsimile with permission of the Archive of the Comune of Sterzing/Vipiteno.

 

Text: “Silete, silete, silentium habete! Nu schweiget lieben Christenlewt” (Christenleute), “nu schweiget still und seid perait, und lasset euch pedewten” (bedeuten), “wie unser Herre Jesu Christ von dem Tod erstanden ist, das sei peschechen als hewte.” (… das sei geschehen wie heute).

[13] Weitere Beispiele und Beschreibungen der “Silete”-Rufe: » A. Dorotheenspiel» H. Musik und Tanz in Spielen» H. Sterzinger Spielarchiv. Vgl. auch Strohm 1993, S. 344.