Schlaglicht: Spectaculum scarlaci (Scharlachrennen)
Das Wiener Scharlachrennen 1382–1534
Zum Entstehungszeitpunkt dieser Nördlinger Stadtansicht aus dem Jahr 1549 (» Abb.Nördlinger Pferderennen) wurde das im Vordergrund dargestellte populäre Pferderennen nicht mehr praktiziert.[1] Die Graphik erinnert an ein vergangenes Fest, das im ausgehenden Mittelalter in den österreichischen und süddeutschen Städten zu den wichtigsten gesellschaftlichen Ereignissen gehörte. Patrizier und Adelige wie auch Fahrende und Prostituierte rivalisierten am Rande von Jahrmärkten in drei Wettkämpfen um kostbare Preise. Während die Vertreter der sozialen Randgruppen in zwei das Fest eröffnenden Wettläufen um jeweils ein Stück Barchent rangen, traten anschließend die jungen Männer der Oberschicht zu einem Pferderennen um ein Stück purpurroten edlen Scharlach, der der Festlichkeit den Namen gab, an.[2]
Die Anfänge des Festes reichen ins Verona des 13. Jahrhunderts zurück. Hier fand die corsa del palio oder corsa del drapo verde vermutlich bereits seit 1207 statt.[3] Dieses Rennen wurde traditionell am letzten Sonntag der Fastnachtzeit abgehalten und bestand zunächst aus einem Pferderennen, dessen Gewinner ein rotes Tuch erhielt, und einem Lauf nackter männlicher Teilnehmer, dessen Sieger eine grüne Tuchsorte in Empfang nahm.[4] Die Statuten des Giangaleazzo Visconti von 1393 berichten hingegen von drei Wettbewerben. Als die neue Attraktion galt der Lauf der Frauen, zu dem auch Prostituierte zugelassen wurden.[5] Als Dante zu Beginn des 14. Jahrhunderts nach seiner Verbannung aus Florenz nach Verona kam, lernte er wahrscheinlich den Palio kennen. Den 15. Gesang des Inferno seiner Göttlichen Komödie beschließt er mit einer kurzen Notiz über das Pferderennen und die Barchentläufer.[6]
Die corsa del palio kann als Vorläuferform des Wiener Scharlachrennens gesehen werden. Die österreichischen Herzöge, dank dynastischer Verbindungen und wirtschaftlicher Kontakte mit Veronas Kulturlandschaft vertraut, brachten sie im späten 14. Jahrhundert nach Wien.[7] Das 1382 von Albrecht III. erteilte Jahrmarktsprivileg bedeutete die Verlängerung der zwei seit 1278 bestehenden Jahrmärkte auf die Dauer von je vier Wochen.[8] Die Urkunde enthält ebenfalls das Recht auf die Durchführung des Scharlachrennens, das jeweils an einem Montag nach Christi Himmelfahrt und nach St. Katharina, dem 25. November, stattfinden sollte.[9] Als Austragungsort diente das heutige St. Marx im südöstlichen Teil Wiens. Von hier führte die Rennroute über den Rennweg zum Wienfluss, durch die Ungargasse zurück nach St. Marx.[10]
Wirtschaftliche und rituelle Aspekte des Scharlachrennens
Die Einführung des Festes 1382 in Wien ist der früheste Beleg des Scharlachrennens im deutschsprachigen Raum und markiert den Beginn seiner schnellen Verbreitung in den österreichischen und süddeutschen Städten. Neben Wien und Wiener Neustadt (ab 1469) waren es überwiegend die Mitglieder des ehemaligen Schwäbischen Städtebundes wie Nördlingen (ab 1438), Augsburg (ab 1453) oder Ulm (1468), die das Rennen veranstalteten.[11] Seine Organisation fiel mit der Abhaltung von Jahrmärkten zusammen, deren Schwerpunkt auf Kürschner- und Textilwarenhandel lag und die der Festigung und Intensivierung der Handelskontakte unter den Städten dienten.[12] Ebenso entscheidend für die Abhaltung der Feste scheint die Gründung und Entwicklung der Baumwollindustrie im deutschsprachigen Raum. Die engen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Wien und Verona legen nahe, dass die Gründung der Barchentwebereien und die Initiierung der Läufe und Pferderennen beinahe gleichzeitig fallen. So wurde das Privileg für die Abhaltung des Festes in Wien nur wenige Jahre nach der Einrichtung der Werkstätte (1368/1373) erlassen.[13]
Das Scharlachrennen war jedoch mehr als sportive Attraktion, gesellschaftliches Ereignis und Demonstration geschäftlicher Beziehungen. Die Struktur des Festes, die aus einem feierlichen Auszug aus der Stadt, dem agonalen Segment sowie dem erneuten Einzug in den Ort, mit dem Siegespferd an der Spitze, bestand, trägt einen deutlich rituellen Charakter. Den Festzug zum Austragungsort führten Trommler und Pfeiffer an, während den Abschluss die Reiter mit ihren Pferden bildeten.[14] Die in der Regel außerhalb der Stadtmauer ausgetragenen Wettkämpfe, wie der Nördlinger Holzschnitt (» Abb. Nördlinger Pferderennen) zeigt, manifestierten eine hierarchische Ordnung, die unter Beachtung ihrer sozialen Grenzen vorgeführt und bestätigt wurde. Die Teilnahme von Randgruppen konnte im Falle der Prostituierten durch den Gewinn eines Stückes Barchent, das üblicherweise als Mitgift genutzt wurde, zu einem sozialen Aufstieg führen. Der Gewinner des Pferderennens sicherte sich nicht nur eine materielle Bereicherung, sondern vor allem einen prestigereichen, ehrenhaften Sieg, der innerhalb der Stadtmauer mit einem festlichen Mahl bestätigt wurde. Als im Wien des Jahres 1534 das letzte Scharlachrennen stattfand, war die Habsburger Residenzstadt nach der ersten Türkenbelagerung finanziell geschwächt und zunehmend dem Kulturleben des Hofes verpflichtet.
[1] Für die freundliche Abdruckgenehmigung danken wir Herrn Direktor Dr. Wilfried Sponsel und Frau Susanne Faul, Stadtarchiv Nördlingen.
[2] Neugart 1987, 1183–1184; Fischer 1968, 63–66.
[3] Pighi 1883, 106.
[4] Pighi 1883, 107–109.
[5] Da Re 1891, 80–87.
[6] Dante 2010, 236–237.
[7] Stromer 1978, 132.
[8] Csendes 1986, 194; Hering 1956; Opll 1996, 189–204.
[9] Csendes 1986, 195.
[10] Perger 2004, 65.
[11] Straßburg führte es 1473 und Nürnberg 1477 ein. Mumelter 1992, 30.
[12] Steinmeyer 1960, 132–144.
[13] Stromer 1978, 30–31.
[14] Kalb 1958, 18; Schlager 1836, 5.
Empfohlene Zitierweise:
Aneta Bialecka: „Das Wiener Scharlachrennen 1382-1534“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/kapitel/schlaglicht-spectaculum-scarlaci-scharlachrennen> (2016).