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Tanzausschreitungen in Klosterneuburg

Marko Motnik

Das im Spätmittelalter aufgekommene rätselhafte Leiden, das im 19. Jahrhundert den Namen „Tanzwut“ erhielt,[6] ist ein bis heute nicht endgültig geklärtes Phänomen. Die Zeitzeugen beschreiben diese zwanghafte Raserei, die oft Wochen, wenn nicht Monate andauerte und Hunderte von Menschen beider Geschlechter erfasste, als einen rasenden Reigen mit wilden Sprüngen und Verrenkungen, der so lange währte, bis die Tanzenden vor Erschöpfung – nicht selten auch erst tot – niederfielen. Oft wird auch von begleitenden Halluzinationen und Visionen religiösen Inhalts berichtet.[7] Im Jahr 1374 ergriff die Tanzwut zunächst Aachen und verbreitete sich von dort ausgehend epidemisch in zahlreichen Städten wie beispielsweise Köln, Metz, Lüttich, Maastricht, Utrecht und Umgebung. Auch für 1375 und 1376 sind Tanzplagen in West- und Nordeuropa dokumentiert.[8] Kaum bekannt ist, dass es diese Tanzkrankheit zur gleichen Zeit auch im österreichischen Raum gegeben hat. Ein beredtes Zeugnis davon legt die sogenannte Kleine Klosterneuburger Chronik oder Chronica auff Closternewburg ab. Es handelt sich dabei um einen Text, der in mindestens acht Abschriften aus dem 16. bzw. 17. Jahrhundert überliefert ist und Aufzeichnungen ab dem Jahr 1322 enthält. Der Urtext dieser Quelle ist verschollen.[9] Zwei Abschriften ist ein undatierter Bericht über die tänzerischen Eskapaden in Klosterneuburg im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts vorangestellt.[10] Eine zeitliche Eingrenzung der Vorkommnisse ermöglicht die Erwähnung des Propstes Collman, bei dem es sich mit Sicherheit um Koloman von Laa, der zwischen 1371 und 1394 als 25. Propst des Stiftes Klosterneuburg amtierte, handelt. Auch ist die erwähnte Judenverfolgung unter den Herzögen Albrecht III. und Leopold III. für die Jahre 1370/71 und 1377 belegt.[11] Die den ausufernden und zügellosen Tanz betreffende Passage der Klosterneuburger Chronik lautet:

„Nun Merckht, Von dem Gelobten [?] Danntz, der Hie Zu Closterneuburg, gewesen Ist, Vor dem Grossen Sterben, hernach manich Jar, es sein alweg widerthaill [sind immer Parteiungen] gewest, Zu Phüngsten am hübschen mittichen [Mittwoch nach Pfingsten], Zwischen den obernpergen vnd den Merttinger [Bewohnern der Oberen Stadt und des Martinsviertels], Ÿeder thaill [Partei] hat gekhriegt, derselben ainer müest den Erssten danntz fürn, Nun Kham Vnnser herr mit seinem Zorn, vnd ließ Auskhomben [ausbrechen] groß Sterben, Den noch ließ man die üpügkhaitt [Auschweifungen] nicht, Recht, ainsmalls Zun Phingsten wolten die hauer [Weinbauer] von S: Merttn, An [gegen?] die Burger sein, Khomen gleich von Wienn geritten, der Scheckh vnnd der Wächinger, die Vnnderstuenden [beobachteten] den danntz vnnd gefüell in [gefiel ihnen] übel der Auflauff, vnnd Rietten dem Brobst, Er solt vasst [kräftig] dartzue thuen, das der danntz vertülgt wuerde, Es was Brobst Collman da, vnnd hieß den Graßhoff [Rasenplatz] woll halben Vermauren, vnnd Eeicht [weiht] den Zu Ainem freithoff. Zehanndt [sogleich] khame ain Sterb, da hies man machen ain grueb, an der statt do man den danntz het gehabt, vnd Angehebt [begonnen], die waz [war] so groß, daz man darein legt Tausend Totter Mennschen. Allso [ebenso] Ist es seÿder [seither] Zaintzig [einzig, lediglich ?] erganngen. Es waz woll ein weÿtter Ring vnnd danntz Alß weÿtt, alß der graßhoff ist. Vnd ehe wan der danntz ein Enndt het, so khomen die wegsseler [Wechsler] mit neuen Phenning, vnd wurffen die auff. So waz die gmain [Stadtrat] da, vnd Zuckht [passten] ser auf, vnd schaueten dz March, wer fürbaser [weiterhin] mit anderer Münß vmbgienng, vnd mit dem Alden gelt, es war wenig oder vill, Der waz dem Hertzogen Verfallen leibs vnnd guets. Es lichen [liehen] auch die wegsseler Neu phennig auß vnnd Paldt auf S: Merttentag [11. November] Rechtsam die steckherer [Gefängnismeister] den Pösten stockhen thuen, wan S: Merttntag kham, so muest man daz gelt vberhaubt haben, daz entnam maniger von den Juden, vnd verderbt sein an leib vnd guett.“[12]

Die Schilderung schließt sich zeitlich unmittelbar an die anderen zeitgenössischen Quellen an, die von kollektiven Tanzausschreitungen berichten. An Brisanz kann sich der Klosterneuburger Bericht aber nicht mit den Beschreibungen der übrigen Quellen, wie etwa der Limburger Chronik, messen. Tilemann Elhen von Wolfhagen schreibt in dieser Chronik von einem „wunderlich gedinge“ auf dem Rhein und auf der Mosel und bietet gleichzeitig einige Erklärungsmodelle für die Tanzwut: der Tanz bräche aus medizinischen Gründen aus, als juristischer Betrug, aus kommerziellen Gründen („umb geldes willen“). Der Tanz wird von ihm letztendlich auch als eine Art Teufelsbesessenheit und Ketzerei gedeutet, die eine Endzeitstimmung ankündige.[13] Die Klosterneuburger Chronik hält das Geschehen fest, versucht es aber nicht zu erklären. Zahlreichen Berichten ist gemeinsam, dass der Tanz auf den Kirchhöfen stattgefunden hat. Dass in Klosterneuburg tausend Menschen an der Tanzraserei gestorben sein sollen, erscheint schlicht übertrieben.

[6] Beispielsweise Hecker 1832.

[7] Vgl. etwa Schmitt 1997.

[8] Vgl. Auszüge aus verschiedenen zeitgenössischen Chroniken bei Böhme 1886, 40–44.

[9] Laut Maschek 1936, 37, könnte dieser Text aus der Feder des herzoglichen Bergmeisters, Stadtschreibers und Stadtrichters Niklas Teim (gest. 1435) stammen. Man geht heute aber eher davon aus, dass die Chronik von mehreren Bürgern von Klosterneuburg verfasst worden ist.

[10] Chronica auff Closternewburg, der lantsfurstlichen statt (Stiftsarchiv Klosterneuburg, Hs. 284) und Cronigcha. Aüff Closterneübürg in Osterreich under der Ennß (Stiftsarchiv Klosterneuburg, K 215), fol. 262v, Nr. 24.

[11] Niederstätter 2004, 22. Die Klosterneuburger Chronik erwähnt eine Judenverfolgung im Jahr 1377: „A. o. 1377. Fieng man die Juden, vnd nam in, d[er] Hertzog Albrecht, vnd Hertzog Leopolt all ir Braitschafft, nur brieff nit.“ (Stiftsarchiv Klosterneuburg, Hs. 284, fol. 4r). Somit wäre der Bericht entweder auf das Jahr 1371 oder 1377 zu datieren. Maschek 1936, 291, setzt das Ereignis in das Jahr 1375, ohne dafür einen genauen Grund zu nennen.

[12] Chronica auff Closternewburg, der lantsfurstlichen statt (Stiftsarchiv Klosterneuburg, Hs. 284), fol. 1r. Ergänzungen nach Stiftsarchiv Klosterneuburg, K 215, fol. 262v, Nr. 24. Die Übersetzungen in Klammern beruhen auf der Teiltranskription von Knapp 2004, 283, und Sverak 1985, 10 f.; weitere Erklärungen sind hier hinzugefügt.

[13] Siehe Wyss 1883, 64.