Schlaglicht: Die Notation der „Mondsee-Wiener Liederhandschrift“
Die „Mondsee-Wiener Liederhandschrift“ (» A-Wn Cod. 2856, fol.166r–284v)[1], die um 1450–1470 wahrscheinlich in der Salzburger Gegend entstand, enthält zwei Arten von Notationen:1. für freirhythmische Gesänge aus der Tradition des Gregorianischen Chorals die gotische Choralnotation.2. für rhythmisch gebundene Gesänge eine sogenannte semimensurale Notation.
1. Von anengeng der sunne klar (G 21)[2]
Der Gesang steht auf fol. 75r der Liederhandschrift (= fol. 242r der Gesamtfoliierung von A-Wn Cod. 2856). Auf der unteren Seitenhälfte schließt der Hymnus Christe qui lux es an. Die originale Überschrift zu diesem Stück steht in roten Buchstaben: Der ympnus Xpe (Christe) qui lux es. Über bzw. neben den beiden Gesängen sind in grauer Schriftfarbe folgende spätere Ergänzungen notiert: Über Von anengeng der sunne klar steht „Asolus orto cardine des munchs“, bei Christe qui lux es „Des munchs“. Nach Meinung des Schreibers wurden also beide Hymnen durch den Mönch von Salzburg ins Deutsche übertragen.
Die Notation Von anengeng der sunne klar ist die in Süddeutschland und Österreich fast überall übliche gotische Choralnotation. Das Lied ist auf vier roten Linien geschrieben. Die Systeme werden zu beiden Seiten von roten Doppellinien begrenzt. Die einzelnen Notenzeichen können wie bei unserer heutigen Notation auf den Linien oder dazwischen stehen. Auf der obersten Zeile zu Beginn steht ein „c“ als Schlüsselbuchstabe. Dieser zeigt an, dass die oberste Linie die c-Linie ist. Die erste Note der Seite über der Silbe Von ist also ein d. Die Tonhöhe ist relativ. Je nach Bedarf kann das Lied höher oder tiefer angestimmt werden. Der Schlüssel dient dazu, die Lage der Halbtöne anzuzeigen. Am Schluss jeder Zeile steht ein Notenzeichen mit einem schräg nach rechts oben verlaufenden Hals, der sogenannte Custos. Er zeigt die Lage des ersten Tones auf der folgenden Zeile an. Die rhombischen Notenzeichen sind leicht zu lesen. Oft sind über einer Textsilbe mehrere Zeichen zu einer sogenannten „Gruppenneume“ zusammengefasst. So stehen über (ane)-geng zwei aufsteigende Töne, über sunne über der ersten Silbe drei aufsteigende und über der zweiten Silbe zwei absteigende Töne. Über Jhe-(sum) erkennen wir eine dreitönige Gruppe in der Anordnung tief-hoch-tief auf den Tönen a-c-a. Rhythmische Differenzierungen zeigt die Notation nicht an. Man singt den Text im Sprechrhythmus ab. Lediglich zum Abschluss der Textzeile über gar (erste Silbe der zweiten Zeile) steht eine Doppelnote als Zeichen eines längeren Verweilens.
2. Ich han in ainem garten gesehen (W 36)[3]
Die Notation dieses weltlichen Liedes auf fol. 47v (= fol. 212v) basiert auf der gotischen Choralnotation, übernimmt aber einfache Notenformen aus der komplizierten Mensuralnotation für mehrstimmige Musik. Diese Notation wird „semimensural“ genannt und gebraucht drei verschiedene Notenwerte:Der Rhombus (Semibrevis) gibt den mittleren Notenwert wieder und entspricht etwa dem Wert unserer heutigen Viertelnote. Die Note mit Hals (Minima) hat den halben Wert, entspricht also einer Achtelnote. Der doppelte Rhombus hat die zweifache Länge eines einzelnen Rhombus und entspricht einer Brevis, bzw. in der Übertragung dem Wert einer halben Note.
In der ersten Zeile der Seite sieht man den Schluss des vorigen Liedes In lieber sach verporgen. Über und steht ein balkenartiges Zeichen, das aus der Mensuralnotation stammt (eine Ligatur), mit einem nach oben gerichteten Notenhals. Dieses Zeichen steht für zwei Semibreven. Anfangs- und Endpunkt des Balkens zeigen die beiden Töne an, also a und e.
[1] Faksimile-Edition: Heger 1968. Edition der Musik in Transkriptionen: Mayer/Rietsch 1894–1896. Vgl. auch Wachinger 1987; Welker 1997; März 1999.
[2] G 21 verweist auf die Nummerierung der geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg in Spechtler 1972.
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Engels: „Die Notation der ‚Mondsee-Wiener Liederhandschrift‘ “, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/kapitel/schlaglicht-die-notation-der-mondsee-wiener-liederhandschrift> (2016).