Die Entstehung der Trienter Codices 87 und 92
Die Trienter Codices » I-TRbc 87 und » I-TRbc 92, bzw. Lupis „Kantionalien“, wie er sie nannte, waren Musikhandschriften ganz anderer Art als das Zwettler Fragment A-ZW. Erstens blieben sie im Besitz ihres Schreibers und vermutlich auch Benutzers, waren also privates, nicht höfisches oder kirchliches Eigentum. Zweitens ist ihr Inhalt wesentlich gemischter – sie sind eine Art Anthologie von Musik zu Gottesdiensten (vor allem des Messordinariums) und gelegentlich weltlicher Unterhaltung –, während das Zwettler Fragment die Gesänge des Messordinariums systematisch nach Gattungen anordnet und wahrscheinlich mehr davon enthielt. Drittens sind Papier- und Schriftgröße des Zwettler Fragments viel größer: Es war offenbar zum Auflegen auf einem Lesepult im Chor gedacht; allein die Höhe der Liniensysteme von 19 mm ist unter damaligen Musikhandschriften außergewöhnlich. Viertens gehört der musikalische Inhalt des Fragments einer etwas älteren Stilphase an als Lupis private Sammlung; dies deutet u. a. darauf hin, dass letztere erst Jahre später begonnen wurde, wahrscheinlich um 1439.
In diesem Jahr starben sowohl der römische König, der Habsburger Albrecht II., als auch sein Vetter, Herzog Friedrich IV., Graf von Tirol. Johannes Lupi war damals vermutlich am Innsbrucker Hof tätig oder genoss die herzogliche Patronage. Als die Regierung Tirols und der Vorlande 1440 von Herzog Friedrich dem „Jüngeren“, dem neuen römischen König Friedrich III., übernommen wurde, muss auch Lupi diesem neuen Herrn gefolgt sein, der seinen Hof alsbald nach Graz und Wiener Neustadt verlegte. (Zur Hofmusik Friedrichs III. um 1440 vgl. » D. Albrecht II. und Friedrich III.) Als Hofkaplan Friedrichs III. wird Lupi nie erwähnt, doch könnte er mit der Erziehung des 1427 geborenen Sohnes von Friedrich IV., dem jungen Herzog Siegmund von Tirol, zu tun gehabt haben, der von seinem Cousin König Friedrich fast wie eine Geisel am Grazer Hof erzogen wurde. Allerdings schrieb der König für den Bozner Kaplan zwei Empfehlungsbriefe auf kirchliche Pfründen sowie 1440 eine Bestätigung der Zugehörigkeit zum Hof (littera familiaritatis), die diesem wohl durch eine stellungslose Periode helfen sollten.[13] Die Jahre von 1439 bis 1443 (dem Jahr von Lupis vermutlichem Amtsantritt als Trienter Kaplan und Organist) sind nach Zeugnis der Wasserzeichen auch die Zeitspanne der Anfertigung der von Lupi geschriebenen Teile von I-TRbc 87 und I-TRbc 92. Bei dieser Arbeit konnte Lupi sogar Musik aus damals dem Hof gehörenden Quellen kopieren, so mit Sicherheit aus dem Codex Aosta (» I-AO Cod. 15.[14]
Wozu sammelte er alle diese Musik? Da die Produkte seiner Arbeit, seine sechs Bücher von cantus figuratus (die auch nicht von ihm kopierte bzw. von anderswo erworbene Handschriften umfassten) nicht dem Hof als Kapellbücher zugedacht waren, sollten sie sehr wahrscheinlich seiner eigenen Karriere dienen. Johannes Lupi hoffte auf eine lukrative Pfründe, in der seine Musikkenntnis und reiche Repertoiresammlung von Nutzen sein konnten – und das war damals typischerweise eine Pfarrei oder das Amt eines Schulrektors. Und wo sonst hätte er eine solche Stellung wohl lieber angetreten als in seiner Heimatstadt mit ihrer aufstrebenden Musikpflege und Unterstützung durch reiche Bürger und Bruderschaften (» E. Bozen)? Dass Lupi seine sechs Musikbücher dann 1455 der Bozner Pfarrei vermachen wollte, könnte recht einfach bedeuten, dass sie von vornherein im Gedanken an diese Institution angefertigt worden waren. Vielleicht hat Lupi um 1439–1443 tatsächlich zeitweise in Bozen gelebt und seine Musiksammlung dort zum Erklingen gebracht.[15]
Es kam jedoch anders als gedacht: Johannes Lupis beruflicher Weg führte ihn 1443 vielmehr nach Trient, wo er erst 1467 als Domkaplan, Organist und Pfarrer der Kirche von Kaltern starb. Schulrektor ist er nie geworden, während dies seinem wichtigsten Nachfolger, dem Trienter Musiksammler Johannes Wiser, gelungen ist. Doch werden die Trienter Schulknaben hoffentlich seine Kantionalien und Musikinstrumente von Zeit zu Zeit angestaunt oder gar musikalisch ausprobiert haben.
[13] Vgl. Wright 1989, 108.
[14] Vgl. Wright 1982.
[15] Weiteres bei Strohm 2013.
[1] Lunelli 1927; Spilsted 1976; Wright 1986; Wright 1989, 95–113. Lunelli 1927 reagierte auf Wolkan 1921, dem es um die Herkunft vor allem der späteren Codices (» I-TRbc 88, I-TRbc 89, I-TRbc 90, I-TRbc 91 und I-TRcap 93*) ging; doch hat Lunelli wichtige biographische Dokumente zu Lupi erstmals beigebracht. Wright 2013 bietet die bislang ausführlichste Beschreibung der Codices Trient 87-1 (I-TRbc 87) und 92-2 (I-TRbc 92).
[2] Nach Wright 1986, 265, mit kleinen Modifikationen (vgl. das dortige Faksimile).
[3] Vgl. Wright 1986, 252–254.
[4] Vgl. Gozzi/Curti 1994, 106.
[5] Wright 1986, 266.
[6] Vgl. Strohm 2014, 25–26.
[7] Das Wort “figuratus” (figuriert) bezeichnet in der Terminologie des Mittelalters und der frühen Neuzeit nicht einen mit Figuren oder Koloraturen ausgezierten Gesang, sondern einen mit besonderen Figuren, d. h. Mensuralnoten, aufgezeichneten Gesang. Der Gegensatz zum cantus figuratus ist der cantus planus, der einstimmige Choral.
[8] Wright 1986, 268.
[9] Zusammengefasst bei Wright 1986, 255–258.
[10] Diese Kaplanei war vielleicht nicht hoch dotiert, aber wegen ihrer zentralen städtischen Bedeutung (u. a. als Sitz einer wohlhabenden Zunft und später der Fronleichnamsbruderschaft) schon fast seit der Zeit ihrer Gründung durch reiche Bürger im Jahre 1378 von dem Tiroler Herzog und dem Trienter Domkapitel umkämpft. Dass Lupi bereits jener gelehrte „Hanns von Wien“ gewesen sein könnte, der 1423 von den Bozner Bürgern als Kaplan eingesetzt werden sollte, jedoch vom Herzog nicht geduldet wurde, bleibt bisher Hypothese; vgl. Haslers Urbar (» E. Bozen), fol. 98v. Jedenfalls war die Bestallung Lupis 1431 die erste seit Jahrzehnten, die im Einvernehmen zwischen Domkapitel und Herzog zustande kam.
[11] Es ist die Motette Argi vices Polyphemus, vielleicht von Nicolaus Zacharie: vgl. Strohm 1993, 116–117. Zu Herzog Friedrich IV., Lupi und den Konzilien vgl. Strohm 2013.
[12] Zu dieser Frage vgl. Wright 1982 und Strohm 2013.
[13] Vgl. Wright 1989, 108.
[14] Vgl. Wright 1982.
[15] Weiteres bei Strohm 2013.