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Deutungen des Veitstanzes

Marko Motnik

Paracelsus hat bereits im 16. Jahrhundert zwischen drei Arten des Veitstanzes unterschieden: Chorea imaginativa, jene Tanzwut, die aus Einbildung geschah, zweitens Chorea lasciva, aus sinnlicher Begierde, und drittens Chorea naturalis, aus körperlichen Ursachen.[14] Justus Friedrich Carl Hecker, der seinerzeit als Begründer der historischen Pathologie galt, prägte das bis heute vorherrschende Bild der Tanzwut als emblematische Krisenerscheinung eines Zeitalters der Furcht und Not. Dementsprechend sieht auch der Tanzforscher Magnus Böhme in der Tanzwut bloß eine Folge der vorangegangenen großen Pest, die sich in Angstzuständen und einem darauf beruhenden religiösen Wahnsinn entladen hätte. In der Vorstellung von Curt Sachs ist die Tanzwut dagegen „ein Stück ekstatischen Seelenlebens.“[15]

Moderne Autoren vertreten tiefergreifende und zum Teil auch konträre Thesen zur Erklärung dieser mittelalterlichen „Seuche“. Der Pharmakologe Eugene Louis Backman meint für die Tanzwut einen monokausalen, toxikologischen Grund zu kennen, nämlich den Ergotismus, also eine Mutterkornvergiftung.[16] Stefan Winkle erklärt die Tanzwut ebenfalls rein naturwissenschaftlich und spricht ihr jeglichen mystischen Charakter ab. Sie sei weder eine ernsthafte ansteckende Krankheit, gefährliche Vergiftung noch reine Hysterie, sondern eine echte oder scheinbare Enzephalitis, die sich durch den Nachahmungstrieb der Menschen allerdings zu einem Massenphänomen ausweiten hatte können.[17] Julia Zimmermann äußert gar Zweifel an dem historischen Wahrheitsgehalt der Berichte, sie könnten viel eher Bestandteil einer Form von Legendenbildung sein, welche „in erster Linie der Verdrängung paganer Bräuche aus dem christlich-sakralen Raum gedient haben mag.“[18] Am gründlichsten und am überzeugendsten behandelt das Thema Gregor Rohmann, der in der Genese der Tanzwut alles andere als eine Massenhysterie wahrnimmt; für ihn ist sie „eine Chiffre für Zustände der Gottessuche, für das Gefangensein auf der Schwelle des Heils.“ Das Phänomen sei demnach mit den Maßstäben der heutigen Medizin und Psychologie gar nicht angemessen zu erfassen. Die Tanzwut sei „eine Krankheit im Sinne einer fundamentalen Störung der sympathetischen Harmonie von Mikrokosmos und Makrokosmos, Mensch und göttlicher Ordnung.“[19]

[14] Paracelsus 1567. Vgl. Hecker 1832, 17–21.

[15] Sachs 1933, 171.

[16] Backman 1952, 295–327.

[17] Winkle 2000, 240–245, 319–325, 374–380.

[18] Zimmermann 2007, 287.

[19] Rohmann 2013, 625.