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Bonus Tenor Leohardi

David Kinsela (Clavicytherium)
frühes 15. Jahrhundert
PL-WRu I F 687, fol. 1r-v
Fundamentum. The Birth of Keyboard Repertoire
organ.o 2002
mit freundlicher Genehmigung des Labels
Graham Wilson

Die Überschrift „Incipit bo[nus tenor] Leohardi“ weist bereits darauf hin, dass hier die Instrumentalbearbeitung eines vorgegebenen cantus firmus vorliegt – vermutlich durch einen „Leonhard“ – oder dass die als „guter Tenor“ titulierte Melodie von Leonhard stammt. Die generische Überschrift „Bonus tenor“ ist in den frühen Tastentabulaturen häufiger anzutreffen. Während besagter Tenor in Breven („Pfundnoten“) in gleichmäßigem Puls voranschreitet, wurde die Oberstimme vom Intavolierer neu hinzugefügt. Die einzelnen Elemente aus den Orgelspiellehren, den Fundamenta organizandi, sind dabei deutlich zu hören: neben variierenden Auftaktfiguren und vermittelnden Floskeln sind v. a. die pausae – Ausfüllungen der gedehnten Kadenztöne – ohrenfällig, die jedes Phrasenende markieren.

In der vorliegenden Einspielung wiederholt der Interpret den ersten Teil des Stücks mit einem nach unten oktavierten Tenor und präsentiert dadurch alternative Möglichkeiten der Stimmverteilungen auf die Hände, um Stimmkreuzungen auf der Tastatur zu vermeiden und die Klangmöglichkeiten des Instrumentes voll auszunutzen. Der erste Teil wird in dieser Interpretation außerdem wie eine Art Refrain jeweils am Ende der folgenden Formteile wiederholt. Bei der letzten Wiederholung wird obendrein die rhythmische Textur der Oberstimme zu einem 6er-Metrum verändert. Die Breslauer Quelle dieses Stücks ist eine der frühesten Tastentabulaturen des deutschsprachigen Raums (» C. Die Überlieferung der Musik für Tasteninstrumente).

Marc Lewon