Nicolaus Krombsdorfer
Organist in Innsbruck
In den Innsbrucker Gehaltsabrechnungen Herzog Siegmunds von Österreich, Graf von Tirol, ist am 8. September 1463 „Niclas Krombsdorffer organista“ mit einem Jahresgehalt von 10 Mark (= 100 £ Berner Pfennige) und 2 Gulden (ca. 3 £) verzeichnet (Währung).[1] Dieser Beleg fasst die im Lauf des vergangenen Jahres erfolgten Teilzahlungen zusammen; zumindest im folgenden Rechnungsjahr 1463–1464 wurde das Jahresgelt (Sold) in drei Raten im Dezember, Juni und September ausgefertigt. Außerdem empfängt der herzogliche Organist Krombsdorfer, wie andere Hofdiener, gegen Weihnachten ein „Opfergeld“ (Geschenk) von noch einmal 2 £ 4 gr. Mit etwa 105 £ dürfte sein Jahreseinkommen dem der am besten bezahlten weltlichen Diener des Hofes entsprochen haben; Kapläne und gelehrte Beamte erhielten manchmal mehr, abgesehen von kirchlichen Benefizien. Der Kanzleischreiber (und spätere Sekretär) des Herzogs, Hanns Wiser von Rheinfelden, erhielt 1463–1464 insgesamt 64 £ Sold; Dr. Berchtold Han von Hanburg, einer der Kapläne, verdiente im selben Rechnungsjahr 126 £. Die von vor 1463 erhaltenen Rechnungen des Innsbrucker Hofes erwähnen Krombsdorfer noch nicht; somit scheint er zu Herbstanfang 1462 in Dienst genommen worden zu sein. Von Anfang an wird er in den Hofrechnungen als „Maister“ bezeichnet, hatte also vor 1463 einen Universitätsgrad erworben.
Nicolaus Krombsdorfer wurde wohl um 1415 geboren (unter der Voraussetzung der vermutlichen ersten Phase seiner Karriere, vgl. Kap. Ferrara). Er stammte vielleicht aus Kronstorf (Oberösterreich);[2] oder Basel (» Kap. Ferrara); über seine Familie scheint nichts bekannt zu sein. Er starb in Innsbruck im Jahre 1488.
Singknaben und Reisen
Am 23. Februar 1464 erhält der Lautenmacher Erhart Pöcht in Arzl bei Innsbruck – 1460 bis 1486 oft für den Hof tätig – 8 £ für eine Laute für „den zwain meins gnedigen Herrn Knaben, die Maister Niclas […] lernt“;[3] d. h. Krombsdorfer gab Lautenunterricht für zwei der jungen Höflinge, unter denen sich auch illegitime Söhne des Herzogs befanden. Dass Krombsdorfer musikalisch begabte Knaben auch im Gesang unterrichtete, darf angenommen werden. Als Organist war er für den geistlichen Dienst in der kleinen Hofkapelle von St. Mauritius im Herzogshof verantwortlich (» Abb. Herzogshof Innsbruck). Zweifelsohne wirkte er auch an privater weltlicher Musik in den Räumen der Burg mit, sei es als Sänger, Lautenist oder mit einer Kleinorgel; fraglich scheint hingegen, ob er gelegentlich auch als Organist an der Pfarrkirche von St. Jakob wirkte, die als Hofkirche diente. Dort wurde der Gesang unter der Leitung des Schulmeisters und seiner Assistenten ausgeführt.[4] Während Krombsdorfers späterer Karriere könnte eine partielle Zusammenarbeit zwischen den unter dem Schulmeister singenden Schulknaben und den solistisch ausgebildeten Singknaben des Hofes stattgefunden haben.[5]
Wichtig waren Krombsdorfers Dienste auf Reisen, sowohl mit dem Herzog, den er z. B. im Sommer 1464 nach München und 1464–1465 in die Vorlande begleitete, als auch allein auf der Suche nach geeigneten Singknaben für die Hofkantorei.[6] Auf Reisen des Hofes war er persönlich für das Wohlergehen der Singknaben verantwortlich; so kaufte er in Bregenz im Dezember 1464 für zwei von ihnen Handschuhe[7] und im Winter 1466 begleitete er den Herzog mit vier Singknaben, denen er in Basel „vier rote hütl“ und später sowohl Schuhe als auch Handschuhe kaufte, ins Elsaß.[8] Im Juni 1466 ritt er nach Meran „umb ain knabn“, d. h. um dort einen Singknaben für den Hof zu rekrutieren;[9] Entsprechendes war sein Auftrag, als er im selben Jahr zwei Knaben von Trient an den Innsbrucker Hof bringen musste.[10]
Geistliche Laufbahn
Krombsdorfers Dienste als Organist sind bis zum 8. September 1467 belegt; die Rechnungen der Jahre 1468–1470 fehlen. Er trat 1470 in den geistlichen Stand ein, ließ sich offenbar noch im selben Jahr am Brixner Dom zum Priester weihen, verbrachte dort einige Zeit um 1471–1472 und wurde dann Kaplan am Innsbrucker Hof (zum ersten Mal so bezeichnet im Oktober 1473).[11] Doch fungierte er weiterhin als „Organist“ und erfüllte musikalische Bedürfnisse des Hofes, u. a. durch Geschäftsreisen, gesungene „Ämter“ (Messen) und die Betreuung von Hofmusikern. 1479 wurde Krombsdorfer Pfarrer der Innsbrucker Pfarrkirche von St. Jakob und damit nach dem Abt des Prämonstratenserklosters Wilten der ranghöchste Geistliche in Innsbruck. Doch auch in seiner neuen Funktion stand er dem Fürsten musikalisch zur Verfügung, vor allem durch die Ausrichtung von Hofgottesdiensten mit den höfischen Gesangskräften und der Orgel. Im Frühjahr 1482 hatte er mehrmals aufwändige Hofgottesdienste zu veranstalten, darunter diejenigen zum Begräbnis „meiner gnedigen fraw von burgund“ (Maria von Burgund, Gemahlin Erzherzog Maximilians, gest. 27. März 1482).[12] Noch bei der Vermählung Herzog Siegmunds mit Katharina von Sachsen im Februar 1484 musste er die von auswärts verpflichteten Sänger einüben, die zur Hochzeit singen sollten („ze vertigen die Cantores, so auf meins gnedigsten Herrn Hochzeit her ervordert waren“, 4. März 1484).[13]
Hofkantorei und Kirche
Nicolaus Krombsdorfer wirkte in einer reichen musikalischen Umgebung, sowohl mit Sängern und Instrumentalisten der fürstlichen Privatsphäre als auch im Kirchendienst.[14] Die Hofkapläne Herzog Siegmunds dienten z. T. auch als Sänger: Krombsdorfer selbst wäre wohl nicht als Kaplan angestellt worden, hätten die Kapläne keinen Anteil an der Hofmusik gehabt. Daneben gab es „Cantoren“ – 1464–1472 wird Wilhelm Perger als solcher bezeichnet – und normalerweise vier Singknaben, die nach den allgemeinen Gepflogenheiten der Zeit mehrstimmig (Figuralmusik) gesungen haben dürften. Die Hofrechnungen verwenden den Titel „cantor“ für alle Sänger, ob sie nun in festem Dienst der Hofkantorei standen oder nur zu Besuch anwesend waren und einmalig entlohnt wurden;[15] eine leitende Kantorenfunktion in der Privatsphäre des Hofes einschließlich der Hofkapelle ist nicht nachweisbar. In der Pfarrkirche von St. Jakob war das Gesangspersonal ähnlich strukturiert wie an anderen größeren Kirchen mit Schulmeister, Junkmeister, erwachsenen Helfern und Singknaben. (Ein Vergleich mit Kirche und Schule in Bozen bietet sich an: » E. Bozen) Die Schulmeister waren seit spätestens um 1460 mit Figuralmusik vertraut; wegen der Zusammenarbeit zwischen Hof und Kirche dürfte der Mensuralcodex des späteren Innsbrucker Schulmeisters, Nicolaus Leopold (» D-Mbs Mus. Hs. 3154; » F.Geistliche Mehrstimmigkeit), manche Komposition enthalten, die mit Hilfe Krombsdorfers einstudiert wurde. Krombsdorfers Dienstreisen waren für die Kultur des Innsbrucker Hofes typisch; ob seine doppelte Spezialisierung als Hoforganist und zugleich Betreuer bzw. Musiklehrer der höfischen Singknaben etwas für die damalige Zeit Besonderes war, bleibt zu erforschen (vgl. auch » E. Bozen, » H. Jugendliche Musiker).
Ferrara
Am 18. September 1472 schrieb „Nicolaus cantor, organista et capellanus“ in Brixen einen heute noch erhaltenen lateinischen Brief an Ercole I. d’Este, Herzog von Ferrara, in dem er seinen Besuch in Ferrara ankündigt und bedauert, wegen der verspäteten Ankunft seines eigenen Herrn, Herzog Siegmunds, aus Konstanz nicht früher reisen zu können.[16] Mit Sicherheit ist der Schreiber dieses Briefes Nicolaus Krombsdorfer, der sich um diese Zeit hauptsächlich in Brixen aufhielt. Aber was hatte er mit dem Adressaten zu tun? Der Inhalt des Briefes setzt voraus, dass es sich um eine verabredete Reise handelte und dass Krombsdorfer mit Herzog Ercole I. zumindest brieflich bekannt war. Nun erwähnen die Hofrechnungen von Ferrara schon seit 1436 einen „Niccolò Tedesco cantor et pulsator“ (Sänger und Instrumentalist), dessen Kunst bewundert wurde. Drei verschiedenen Fürsten der Este-Dynastie (Marchese Niccolò III. bis 1441, Marchese Leonello 1441–1450, Duca Borso d’Este 1450–1471) diente Niccolò Tedesco als „cantor et pulsator“. In den Hofrechnungen ist er der einzige, der explizit als Instrumentalist (Laute, Orgel?) und zugleich als Sänger charakterisiert wird – obwohl diese Qualifizierung auch auf einige seiner Kollegen in Ferrara zutrifft, etwa den hochberühmten Pietrobono „dal Chitarrino“. Niccolò reiste zum Zweck der Rekrutierung anderer Musiker, vor allem Instrumentalisten, bereits im November 1436 nach Basel (zum Konzil?) und 1441 zweimal nach „Alemagna“.[17] Er hatte Umgang mit vielen anderen Hofmusikern, so 1450 mit dem damals noch am Hofe weilenden „Johannes ab arpa de anglia“ (John Bedyngham?), dem er Geld geliehen hat.[18] Im Jahre 1460 schrieb er auf Verlangen an Marchese Lodovico Gonzaga von Mantua, um einen (auch sonst bekannten) Giovanni Brith zu empfehlen, der in Ferrara mit dem Vortrag von Liedern in venezianischer Manier (aëre veneziano) geglänzt hatte.[19]
Krombsdorfer und Martini
Die Erwähnungen von Niccolò Tedesco als Hofmusiker in Ferrara enden im Jahre 1462; Krombsdorfer wurde in diesem Jahr in Innsbruck angestellt, und es ergibt plötzlich einen Sinn, dass er dort von Anfang an ein hohes Gehalt bezog, weil er ein erfahrener und gefeierter Musiker war: Er ist identisch mit Niccolò Tedesco. In Ferrara erscheint „Niccolò Tedesco“ noch einmal 1466, während er 1463–1465 fehlt und die Rechnungen 1467–1469 nicht erhalten sind.[20] Ab 1470 ist der Organist ein Cornelio di Fiandra. Die Erwähnung Niccolòs im Jahre 1466 kann so erklärt werden, dass es sich nur um eine Belohnung während eines Besuchs handelte; in diesem Jahr war Krombsdorfer viel unterwegs und zumindest bis nach Trient gereist, um Singknaben anzustellen (vgl. Kap. Singknaben und Reisen). Kann auch die Reise, die sein Brief vom 18. September 1472 belegt, mit einem solchen Zweck zu tun gehabt haben? Wie Manfred Schuler dargelegt hat, wurde der bekannte Komponist und Kapellsänger des Este-Hofes, Johannes Martini, um 1471–1472 aus Konstanz geholt und am 27. Januar 1473 in Ferrara installiert.[21] Wenn Krombsdorfer im September 1472 in Brixen auf die Rückkehr Herzog Siegmunds aus Konstanz warten musste, dann erwartete er vielleicht mit dem Herzog auch den Konstanzer Domkaplan „Dominus Martinus de Alemania“, um ihn anschließend nach Ferrara zu begleiten. Er hatte dem Hof der Este-Dynastie 26 Jahre lang gedient; Johannes Martini (gest. 1497) sollte es für weitere 25 Jahre tun.[22]
Kompositionen von Krombsdorfer?
Im Codex des Nicolaus Leopold (D-Mbs Mus. ms. 3154) ist noch Musik aus Krombsdorfers Organistenzeit vorhanden. Es stellt sich die Frage, ob die eine oder andere anonyme Komposition von ihm selbst stammen könnte, oder, ob sich Musik von ihm anderswo finden lässt. Walter Senn gibt eine Beobachtung Hans Joachim Mosers weiter, der zufolge der Hofhaimer-Schüler Hans Kotter um 1513 die Intavolierung eines Liedes Betrübt ist mir mein herz notierte (in » CH-Bu F IX 22), die er einem „Nicolaus […] musicae jam dudum erigescentis primus instaurator“ (Nicolaus […], erster Begründer der vor kurzem wiedererweckten Musik) zuschrieb.[23] Das scheint schon deshalb gut zu Krombsdorfer zu passen, weil in Kotters Tabulaturband außer Werken seines Lehrers Hofhaimer auch solche von Isaac und Martini auftreten. Nicht nur Paul Hofhaimer, der nach den Innsbrucker Hofordnungen sogar mit seinem Vorgänger Krombsdorfer am gleichen Tisch speiste,[24] sondern auch Johannes Martini und Henricus Isaac sind wohl persönlich mit dem „Begründer“ der Innsbrucker Hofmusik zusammengetroffen.
Um 1466 notierte der Trienter Schulmeister Johannes Wiser im Codex Trient 89 (» I-TRbc 89) eine komplexe vierstimmige Vertonung eines späten Liedes von Oswald von Wolkenstein, Heya, heya, nu wie si grollen (» Hörbsp. ♫ Heya, heya; » Notenbsp. Heya, heya). Spätere Aufzeichnungen der Komposition finden sich in den Linzer Fragmenten (» A-LIb Hs. 529) und, bemerkenswerterweise, im Florentiner Chansonnier » I-Fn B.R. 229. Während also die Liedvorlage nach Tirol weist (Oswalds Lied situiert sich sogar in Brixen), deutet die Verbreitung der Komposition auf die habsburgische Sphäre (zur maximilianeischen Herkunft der Linzer Fragmente vgl. » K. A-LIb Hs. 529) und auf einen Autor, der vielleicht mit Martini und Isaac verknüpft war, deren Kompositionen in » I-Fn B.R. 229 hervorgehoben sind; ich habe Krombsdorfer vorgeschlagen.[25]
[1] Tiroler Landesarchiv Innsbruck (TLA), Raitbücher Bd. 3 (1463–1466), fol. 282r. ().
[2] Auch das thüringische Kromsdorf bei Weimar ist nicht ganz auszuschließen.
[4] Wie z. B. in Bozen: vgl. » E. Bozen.
[7] TLA, Raitbücher Bd. 3 (1463–1466), fol. 638v. » A-Ila Raitb. 3-17.
[8] TLA, Raitbücher Bd. 4 (1466–1467), fol. 48r und 162v; auch Senn 1954, 11. » A-Ila Raitb. 3-17.
[9] TLA, Raitbücher Bd. 4 (1466–1467), fol. 114r. » A-Ila Raitb. 3-17.
[10] TLA, Raitbücher Bd. 4 (1466–1467), fol. 116r; vgl. auch Senn 1954, 11. » A-Ila Raitb. 3-17.
[11] TLA, Raitbücher Bd. 8 (1473), fol. 95r. » A-Ila Raitb. 3-17.
[12] TLA, Raitbücher Bd. 15 (1482), fol. 319v. » A-Ila Raitb. 3-17.
[13] TLA, Raitbücher Bd. 17 (1484), fol. 33r; vgl. auch Senn 1954, 11–12. » A-Ila Raitb. 3-17.
[14] Weitere Informationen zur Innsbrucker Hofmusik bei Senn 1954, Strohm 1993, 518–523, und Strohm 2001.
[15] Ein “Jeronime cantor”, der sicher von auswärts kam und nur einmal erwähnt ist, erhält 1463 eine Entlohnung von 4 £: TLA, Raitbücher Bd. 3 (1463–1466), fol. 569v. » A-Ila Raitb. 3-17.
[16] Lockwood 1984, 156 und 161; Strohm 1993, 519–520.
[17] Lockwood 1984, 47, 97, 317–318. Ein Dokument aus Ferrara nennt ihn “de Basilea”, was auf einer Verwechslung mit der Reise nach Basel beruhen mag oder seine tatsächliche Herkunft anzeigen könnte: Allerdings wird er in Innsbrucker Quellen nie so bezeichnet.
[18] Lockwood 1984, 50.
[19] Vgl. Strohm 1993, 545.
[20] Vgl. Lockwood 1984, 317–318.
[21] Vgl. Schuler 1975; Lockwood 1984, 131–132.
[22] Zu Martinis anhaltenden Kontakten mit Tirol vgl. » F. Musiker aus anderen Ländern.
[23] Senn 1954, 12, nach Moser 1929, 14. Der Tabulaturband (Bd. 1 der „Amerbach“-Sammlung) ist ediert in Marx, Hans Joachim (Hrsg.), Tabulaturen des XVI. Jahrhunderts. Teil 1: Die Tabulaturen aus dem Besitz des Basler Humanisten Bonifacius Amerbach¸ Basel 1967 (Schweizerische Musikdenkmäler 6), Nr. 7 (10 und 121), wo als Komponist unnötigerweise der Niederländer Nicolas Craen vorgeschlagen wird.
[24] TLA, Hs. 208 (Hofordnung 1478).
[25] Vgl. Strohm 1986/1987.
Empfohlene Zitierweise:
Reinhard Strohm: „Nicolaus Krombsdorfer“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/nicolaus-krombsdorfer> (2016).