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Die Datierung von Trient 93 und Trient 90

Als Franz Xaver Haberl im Jahre 1885 die Entdeckung von „Sechs Trienter Codices“  (I-TRbc 87-92, bzw. 1374-1379) im Archiv des Trienter Domkapitels bekanntgab, wusste er noch nichts von der Existenz einer siebenten, eng verwandten Musikhandschrift, die erst 1920 ebendort zum Vorschein kam und erstmalig von Rudolf von Ficker 1924 beschrieben wurde.[1] (»Abb. Trienter Codex 93, fol. 64v-65r).

 

 

 

Abb. Trienter Codex 93, fol. 64v-65r.

I-TRcap 93*, Kopist A. Introitus-Abschnitt mit fol. 64v Etenim sederunt principes (2. Vertonung, zweistimmig) zum Fest Inventio Stephani, 3. August, und fol. 65r Intret in conspectu tuo Domine (zweistimmig) zum Fest von St. Afra, 7. August. © Archivio Diocesano, Trento. Mit Genehmigung.

 

Zum Erstaunen der Fachwelt enthielt dieser Band, der hier „Trient 93“ genannt wird,[2] weitgehend dieselben Kompositionen wie der schon bekannte Band Trient 90 (I-TRbc 90 =1377), weswegen er zunächst als zweitrangige Abschrift desselben angesehen wurde. Margaret Bent zeigte jedoch 1979,[3] dass Trient 93 nicht die Kopie, sondern in Wirklichkeit die Vorlage für einen Großteil der in Trient 90 aufgezeichneten Musik war. Trient 93 ist heute ein Band mit den Abmessungen 317 x 205 mm und 382 Papierblättern, gebunden in 33 Lagen. Der Hauptteil (im Folgenden Tr 93-1) ist eine systematische Sammlung von mehrstimmigen Vertonungen des Messordinariums und Messpropriums.

Johannes Wiser aus München, der 1455 erstmalig als succentor am Dom von Trient erwähnt wird,[4] kopierte  – mit Ausnahme einer Gruppe von Sequenzvertonungen – den Gesamtinhalt von Tr 93-1 (fol. 1-355) in Trient 90 (fol.1-282, hier Tr 90-1 genannt), wo er auf fol. 365v seinem Namen signierte. Er und andere Schreiber fügten an beide Konvolute viele weitere Musiksätze an, die teils noch zur Messpolyphonie gehören, teils zu anderen geistlichen und weltlichen Gattungen (Tr 93-2 bzw. Tr 90-2): »Abb. Musikgattungen in Codex Tr 93.

 

 

 

 

Abb. Musikgattungen in Codex Trient 93 (2 Abbildungen)

Die farbigen Felder enthalten die ursprünglich vorgesehenen Gattungen in den Teilen Tr 93-1 und Tr 93-2. Weiße Felder enthalten Nachträge anderer Gattungen. Nachträge, deren Gattung zum Hauptteil an dieser Stelle passt, erweitern das farbige Feld in die Zone der Nachträge. Nicht angegebene Blattzahlen entsprechen leergelassenen Seiten. Die Bestimmung der Kopisten erfolgte nach Wright 1989, S. 304-305 (Bezeichnung „X“ statt „C“ und „Wiser“ statt „F“).

 

Suparmi E. Saunders und Peter Wright haben durch Wasserzeichenforschung ermittelt, dass die Herstellung beider Handschriftenbände in den Jahren 1450-1456 vor sich ging.[5] Wrights Datierung der Papiere stützt sich auf besonders umfangreiches Vergleichsmaterial, das in eigenen Archivforschungen gesammelt wurde. Sein Ergebnis sieht – vereinfacht – folgendermaßen aus:[6]

Trient 93-1 (Messensammlung): 1450-1453

Trient 93-2 (verschiedene Gattungen): 1452-1455

Trient 90 (ganzer Band): 1453-1456.

Wichtig ist, dass das Papier von Trient 93-1 (fol. 1-355 der Handschrift) in den anderen Teilen beider Bände nicht wiederkehrt, dass jedoch die in Trient 93-2 verwendeten Papiere auch zur Herstellung des Anfangs von Tr 90-1 (fol. 1-131) benützt wurden. Zur Weiterführung dieser Abschrift, und zur Aufzeichnung weiterer Stücke am Ende des Bandes Trient 90 (Tr 90-2), machten die Kopisten von anderen Papieren Gebrauch, die sämtlich noch um 1454-1456 datierbar sind.